Turmbau nördlich der Alpen

Eröffnungsrede Claus Kuge
Matinee zur Stadtgeschichte
am Sonntag, 24. Juni 2007, 11.15 Uhr

„Markante Blickpunkte im Stadtbild – Türme in Pforzheim“
mit Christina Klittich M.A.

Ich begrüße Sie herzlich, liebe Singer und Gäste, zur 2. Matinee unseres 507. Singerjahres.

Wir sind mittlerweile im abendländischen Raum so daran gewöhnt, dass Bauwerke, vor allem kirchliche Bauwerke Türme haben, dass wir das fast als selbstverständlich voraussetzen.

Aber die Entwicklung von Türmen stellt in der nordeuropäischen Architektur ein besonderes Kennzeichen dar und für die Architekturgeschichte eine Neuerung. In der antiken europäischen Baukunst gab es kaum Türme. Einige exotische Beispiele wie der Turm zu Babel und der Leuchtturm von Alexandria sind zwar bekannt, ihr Aussehen ist nicht überliefert. Dies waren Sondererscheinungen, keine festen architektonischen Formen.

Der Turm hat die Griechen und Römer nicht interessiert und war deshalb kein Charakteristikum im antiken Stadtbild.

Die ersten erhaltenen Türme stammen aus dem norditalienischen Raum. Es sind dies die Campanile Türme aus dem 6. Jahrhundert; z.B. Sant Apollinare Nuovo in Ravenna. Sie wurden durch germanische Stämme nach der Völkerwanderung gebaut.

Ein Campanile ist ein Glockenturm, der neben einem Kirchgebäude steht und nicht integriert ist. Das Wort kommt aus dem Italienischen (campana = Glocke). In Italien ist die freistehende Anordnung des Kirchturms sehr verbreitetet. Der bekannteste Campanile ist der Schiefe Turm von Pisa. Sehr bekannt ist auch der Campanile von Venedig (Markusturm) und Giottos Campanile des Florentiner Doms.

In Deutschland verfügen beispielsweise die Friedenkirche im Park bei Sanssouci und die Heilandskirche am Port von Sacrow, gleichfalls in Potsdam, über einen Campanile. Auch die Trinitatiskirche in Leipzig, Anger-Crottendorf besitzt einen Campanile. Als Relikt der alten Marienkriche steht in Halle (Saale) noch der über 80 Meter hohe Rote Turm auf dem Marktplatz.

Die vielzitierte „himmelstürmende Ekstase“ der nordischen Völker findet im Turm ihr extremstes und wirksamstes Gestaltungsmittel. Diese architektonische Ekstase war den in klassischer Ruhe und Harmonie lebenden antiken Völkern immer fremd und es ist bis heute geblieben. Es gibt im ganzen lateinischen Mittelmeerraum nichts, was den nordeuropäischen Turmkonstruktionen vergleichbar wäre. Die Minarette der islamischen Moscheen gehören nicht in diesen Zusammenhang; sie erfüllen eine ganz andere Funktion ebenso wie die Geschlechtertürme der italienischen Stadtstaaten im Mittelalter und in der Renaissance.

Als Karl der Große um 800 seine Pfalz in Aachen baute, von der die Kapelle heute noch steht, konnte er auf keinerlei heimischer Tradition aufbauen .Er zog Handwerker aus aller Herren Länder des südlichen Raumes zusammen, um zum ersten Mal auf deutschem Boden ohne jede Tradition einen groß angelegten, anspruchsvollen Steinbau zu verwirklichen, der den Turmgedanken schon deutlich verwirklicht.

Es wird häufig die Frage aufgeworfen – angesichts vieler scheinbar unvollendeter und „abgeschnitten“ wirkender Fassadentürme (etwa bei Notre Dame in Paris) – ob es bei den zahlreichen großen gotischen Kathedralen auch tatsächlich zur Planung dieser großen Türme gekommen ist, die erst viel später – wenn überhaupt und dann in veränderter Form – vollendet wurden.

Geplant waren – höchst wahrscheinlich – immer spitze Türme. Dass es zum Bau dieser Türme häufig erst viel später gekommen ist, heißt nicht, dass sie nicht geplant waren. Sie waren der schwierigste, baulich späteste und teuerste Bauteil. Und deswegen ist es häufig nicht zu ihrer Realisation gekommen.

Die wissenschaftliche Forschung ist allerdings insofern in einer gewissen Schwierigkeit, weil wir
meistens keine zeitgenössischen Dokumente besitzen, die uns Aufschluss über die originäre Planung geben. Sind solche aber vorhanden, gibt es keinen Zweifel darüber, dass hohe Türme – mit Spitzen – vorgesehen waren.

Die mittelalterlichen Bauvorhaben der Gotik sind nicht mit heutigen Planungen zu verwechseln. Die damaligen Baumeister ließen sich – auch hier muss man wieder einschränkend sagen: „höchstwahrscheinlich“ – durchaus auf Ideen ein, von denen nicht klar war, ob und wie sie gelingen konnten. Ein Paradebeispiel dazu ist die – diesmal gesicherte – Planung der Zweiturmfassade des Kölner Doms aus dem 14. Jahrhundert. Der berühmte „Kölner Fassadenplan“ von 1310/20 wurde erst im 19 Jahrhundert gebaut.

Die gotische Architektur hat generell die Tendenz zur maximalen Ausnutzung der damaligen technischen Möglichkeiten – und zu ihrer Überschreitung. Und nicht umsonst ist es häufig zu Einstürzen gekommen – der bekannteste war in Beauvais 1284 bei dem Versuch, die Gewölbehöhe auf 48 Meter zu steigern. Es liegt hier nahe anzunehmen, dass Leute, die dies planten, auch vor Türmen mit über hundert Metern Planhöhe nicht zurückschreckten.

Im Kirchturmbau haben sich seit damals folgende architektonische Parameter für die Planung festgesetzt und der Kirchturm hat im traditionellem Verständnis mehrere Funktionen:

  • Hinweis auf die vertikale Dimension
  • Markierung von Ortszentrum (bzw. Kirchplatz) und Ortsbild
  • Architektonische Ergänzung des Kirchenbaus, Ost-West-Achse
  • Repräsentationszwecke zumeist in Verbindung mit der Westfassde
  • Betonung der Himmelsrichtungen
  • Träger von Turmuhr und Glocken
  • Träger von Windrichtungsgebern (Wetterhahn)
  • Träger der Symbole an der Turmspitze (Kreuz), in lutherischen Gemeinden selten auch ein Schwan
  • Aussichtsplattorm zur Beobachtung (Feinde, Feuer) durch den Türmer
  • Aussichtsplattform für Touristen
  • Teil der Stadtbefestigung in kleineren Städten
  • Befestigte (letzte) Rückzugsmöglichkeit im ländlichen Bereich

Bevor wir jetzt auf unseren Pforzheimer Campanile steigen – zum Einstimmen

Die erste Strophe des Gedichtes „Am Turme“ – geschrieben 1842 von Anette v. Droste Hülshoff

Ich steh‘ auf hohem Balkone am Turm,
Umstrichen vom schreienden Stare,‘
Und lass‘ gleich einer Mänade den Turm
Mir wühlen im flatternden Haare;
O wilder Geselle, o toller Fant,
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
Auf Tod und Leben dann ringen!

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