Gunter Demnig präsentiert persönlich sein Projekt „Stolpersteine“
der Pforzheimer Öffentlichkeit im
PZ-Forum.
am Donnerstag, 14. März 2008, 19.00 Uhr

Wir sind betroffen
Rede Obermeister Claus Kuge

Betroffenheit ist es, die uns heute Abend hier zusammen bringt im PZ-Forum

Betroffenheit über das, was an Verbrechen im Nationalsozialistischen Regime geschehen ist.

Betroffenheit über die Verbrechen in unserer Heimatstadt Pforzheim.

Betroffenheit darüber, dass sehr viele Pforzheimer Mitbürgerinnen und Mitbürger
Männer und Frauen, Alte, genauso wie Kinder
Opfer des verbrecherischen nationalsozialistischen Regimes wurden.

Was war aber das Verbrechen unserer Pforzheimer Mitbürgerinnen und Mitbürger weshalb sie
verhaftet, verschleppt und ermordet wurden?

Nichts.

Ihr Verbrechen war:

sie waren Juden
sie waren Zeugen Jehovas
sie waren bekennende Christen
sie waren schwul oder lesbisch
sie waren körperlich oder geistig behindert
sie waren Kommunisten oder SPD-ler
sie waren Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter
sie waren Sinti oder Roma

Das war ihr Verbrechen.
Ihr einziges Verbrechen.

Und deshalb wurden sie ermordet.
Allein deshalb.

Deshalb sind wir noch heute und zu recht betroffen.

Es ist unfassbar und nicht nachvollziehbar, was hier in Pforzheim und damit vor unseren Haustüren passiert ist.

Deshalb sind wir heute hier.
Deshalb sind wir hier und heute
betroffen.

Unser Pforzheimer Stadtarchiv hat recherchiert und nach noch vorhandenen Unterlagen und Quellen folgende Fakten ermittelt:

Aus Pforzheim wurden mehr als 1.000 Menschen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik,
die weitaus meisten hiervon auf Grund ihres Judentums.

Bei der Volkszählung 1933 wurden in Pforzheim 770 Juden ermittelt.

Davon emigrierten bis 1940 485 Jüdinnen und Juden.

Im Rahmen der Deportation aller Badischen und Pfälzer Juden am
22. Oktober 1940 wurden
195 Pforzheimerinnen und Pforzheimer im Alter zwischen 2 ½ und 86 Jahren in das Lager Gurs
nach Südfrankreich verschleppt.

Mindestens 140 davon fanden in Gurs selbst oder anschließend in den Vernichtungslagern des Ostens
den Tod.

In Auschwitz wurden 78 Pforzheimer Juden ermordet.

Ca. 700 Pforzheimerinnen und Pforzheimer, die ermordet wurden waren jedoch keine jüdischen Mitbürger, sondern wie ich bereits Eingangs ausgeführt habe: Zeugen Jehovas, bekennende Christen,
NS-Regimegegner und Oppositionelle, Schwulen und Lesben, Geistig- oder Körperlich behinderte Menschen.
Oder sie waren als Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter in Pforzheim.

Die 13 Stolpersteine, die Gunter Demnig heute in Pforzheim verlegt hat, erinnern namentlich an
folgende Mitbürger und Mitbürgerinnen.

Wir gedenken der Opfer

Albert Eckstein,
Felicitas Eckstein,
Lore Eckstein,
Martin Eckstein,
Max Weißhaar,
Adolf Rothschild
Max Rödelsheimer,
Luise Neuburger
Auguste Goldbaum,
Fred Josef,
Klara Müssle,
Alexandra Ripalo
Eugen Weidle

Schier endlose Diskussionen, Expertenbefragungen, Kolloquien hat es gekostet, bis das heute in der Berliner Mitte – nahe dem Brandenburger Tor – stehende zentrale Denkmal für die über 6 Millionen ermordeten Juden in Europa errichtet werden konnte.

6 Millionen Opfer – eine unfassbare Zahl.

Man kann sie zwar öffentlich festschreiben und den Opfern Gedenkstätten errichten, doch das ungeheuerliche Verbrechen bleibt abstrakt, namenlos, beinahe gesichtslos anonym.

An festgelegten Tagen werden Reden gehalten und Kränze niedergelegt.

Diesen eingeübten schmerzfreien Umgang mit der Erinnerung vor Denkmalen ohne Namen lassen
Gunter Demnigs Stolpersteine nicht zu.

Die Stolpersteine tun weh, man kann ihnen nicht so leicht entkommen.
Denn:
sie erinnern namentlich und damit an einzelne Menschen.
Und an ihr trauriges Schicksal.
Ihr Leid wird fassbar.

Mitleid wird möglich.

Und Reue bei Mittätern und Wegschauern.

Gunter Demnigs politische Land Art, sein Mahnmal hat keine Kommission beschlossen, keine
Experten-Gutachten wurden dafür eingeholt.

Gunter Demnigs Kunstprojekt für Europa wächst gewissermaßen aus dem Volk heraus.
Aus der Betroffenheit Einzelner, genauso wie aus der Betroffenheit ganzer Gruppen.

Die Stolpersteine wachsen und vermehren sich überall in Deutschland und inzwischen auch europaweit.
Durch die Stolpersteine entsteht so das größte dezentrale Mahnmal Europas.

Über 14.000 Stolpersteine sind es inzwischen.

Gunter Demnig ist ein politischer Künstler:

In den 70er Jahren wurde Demnig in Berlin verhaftet, weil er auf einer amerikanischen Flagge
die 51 Staatssterne durch Totenköpfe ersetzt hatte.

Das war der Beginn seiner kompromisslosen Kariere als politischer Künstler.

1985 schlug Demnig zur Hamburger Friedensbiennale rund 1.200 Friedens- und Freundschaftsverträge von 2260 vor Christus bis ins 20. Jahrhundert in eine 12 Meter lange dünne Rolle aus Dachdeckerblei.

In den 90er Jahren irritierte er mit archaischen Gesetzestafeln. 120 Übersetzungen des 1. Artikels
der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte übertrug er mit Hilfe der Kölner Universität in die internationale phonetische Lautschrift und prägte das ganze mit speziellen Lettern in Tontafeln.

Beherrscht man diese Lautschrift, kann man die Texte zwar lesen, aber dennoch nicht verstehen. Babylonische Sprachverwirrung als Spiegel einer wortreichen, aber zugleich sprachlosen Gesellschaft.

Zur Erinnerung an die Deportation der Roma und Sinti aus Köln im Jahr 1940 zog er eine kilometerweite Kreidespur durch Köln, die den Weg der Deportierten nachzeichnete.

Um die Kreidespur wenigstens an einigen Stellen symbolisch zu konservieren hat er sie als Schriftzug in Messing geprägt, die jetzt an
21 Stellen im Kölner Stadtgebiet verlegt ist.

Dieses Projekt lässt sich als Vorläufer der Stolpersteine bezeichnen.

Durch den Spurenleger Gunter Demnig wächst tagtäglich in Deutschland das größte, basisdemokratische Mahnmal, das an die Verbrechen des verbrecherischen NS-Regimes erinnert
und anklagt.

Die Stolpersteine sind ein menschliches, ein höchst persönliches Mahnmal, bei dem sich gerade
alle beteiligen und beteiligen können, die ihre eigene Betroffenheit sichtbar machen wollen. Und die
gerade auch wissentlich und voll bewußt unsere Jugend aufmerksam, wachsam und sensibel machen
wollen auf das, was damals im Namen des Deutschen Volkes in ganz Deutschland und in ganz Europa
an Verbrechen begangen wurde.

Viele haben damals dabei weggeschaut.
Viele haben damals dabei mitgemacht.

Aber alle haben es damals gewusst.

Demnigs Stolpersteine sind reale und geistige Stolpersteine dafür, dass so etwas nicht mehr passiert.
Weder in Pforzheim, noch in Deutschland, noch in Europa.

Ich möchte ausdrücklich einschließen in meine Einführung zu Gunter Demnig und die Stolpersteine
in Pforzheim folgende Mahnung aus Jonathan Littell’s Buch „Die Wohlgesinnten“

„Die wirkliche Gefahr – vor allem in unsicheren Zeiten – sind die gewöhnlichen Menschen,
aus denen der Staat besteht.
Die wirkliche Gefahr für den Menschen bin ich, seid ihr.“

So ist es gut und richtig, dass auch im Jahr 2008 immer noch die Zahl von Städten und Gemeinden von Schulen und Bürgerinitiativen wächst, die ihren einstigen Mitbürgern, Nachbarn, Hausgenossen und Klassenkammeraden deren plötzliches Verschwinden damals angeblich keiner bemerkt hat
ein Erinnerungszeichen setzen wollen. Auch unter dem Aspekt, dass sich viele zwar nicht schuldig, aber doch in einer gewissen Weise verantwortlich für die Gräuel und Verbrechen der Nazis tief im eigenen Inneren fühlen. Auch wenn oder weil sie heute nur Söhne oder Töchter der Nazigeneration sind.

Die Beweggründe, Hintergründe und die Geschichte der Pforzheimer Initiative Stolpersteine wird Ihnen gleich Martin Schäfer, Dekan i.R., schildern, der gemeinsam mit dem Landrat I.R. Dr. Heinz Reichert
und Hans Mann, die Initiative Stolpersteine in Pforzheim ins Leben gerufen hat. Und deren engagierter Träger seit dem Januar 2007 die Löbliche Singergesellschaft von 1501 Pforzheim ist.
Als einer der beiden Obermeister habe ich heute zu Ihnen gesprochen.

Und persönlich bin auch ich sehr betroffen von dem, was in Pforzheim in den 30er und 40er Jahren
in der Stadt des Humanisten Johannes Reuchlin passiert und an Verbrechen gegen das Humane
geschehen ist.


Claus Kuge

(Es gilt das gesprochene Wort)


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