Rede
Oberbürgermeister a.D. Dr. Joachim Becker
aus Anlass des Gedenktages an die Reichspogrome
der NS-Gewaltherrschaft
am 09.11.2006
am Platz der Synagoge in Pforzheim

Am 07. November 1938 wurde auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst vom Rath in Paris
durch den jungen polnischen Juden Herschel Grynszpan ein Attentat verübt, an dessen Folgen der Diplomat zwei Tage später verstarb. Es war die Verzweiflungstat eines 17-Jährigen, dessen Eltern
als Staatenlose aus Deutschland deportiert wurden. Dies nahmen die nationalsozialistischen Machthaber zum willkommenen Anlass, antisemitische Pogrome zu inszenieren. Vor allem durch Angehörige der
SA wurden in der Nacht vom 09. zum 10. November 1938 Synagogen, jüdische Friedhöfe und
jüdische Wohn- und Geschäftshäuser geschändet und zerstört. Auch an der Pforzheimer Synagoge
verging sich der organisierte Mob.

Es gilt das gesprochene Wort!

I

Nach der Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 wurden Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft systematisch verfolgt:

– Am 01. April1933 kam es zu einem organisierten Boykott jüdischer Geschäfte, begleitet von Ausschreitungen der SA gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger.

– Im gleichen Monat wurden Juden aus der Beamten- und Richterschaft ausgeschlossen.

– Die Rassengesetze des Jahres 1935 machten die Juden zu Bürgern minderen Rechtes.

– Seit 1938 wurden Juden aus den freien Berufen, insbesondere der Ärzteschaft und der Anwaltschaft, ausgeschlossen; alle Juden mussten in der Öffentlichkeit Judensterne tragen.

Joachim Fest beschreibt in seinen Erinnerungen, welche Schikanen sich Behörden und der kleine Mann
auf der Straße darüber hinaus ausgedacht hatten:

– Juden durften nicht mehr auf Parkbänken sitzen oder durch Spaziergänge die „gute Luft des
Deutschen Waldes“ verpesten.

– Sie durften keine Zeitungen und Zeitschriften mehr beziehen, die Telefonanschlüsse wurden abgestellt; auch Haustiere durften sie nicht mehr halten.

– Von einem jüdischen Witwer berichtet er, dass diesem der Erwerb von Blumen für das Grab
seiner Ehefrau mit der Begründung verwehrt wurde, Blumen seien ein Schmuck deutscher Art.

Ab 1942 begannen die Massenvernichtungen in den Konzentrationslagern, in denen 6 Mio. Menschen
aus Deutschland und anderen europäischen Ländern umgebracht wurden.

Der Genozid am europäischen Judentum ist einzigartig in der Weltgeschichte und eine Schande für
unser Volk.

Am heutigen Tage gedenken wir der Ausschreitungen des 09. und 10. November 1938, die den
Weg in die Vernichtung, den Holocaust, vorbereitet haben.

II.

Das Gefühl der Opfer, von Gott und den Menschen verlassen zu sein, sind unauslöschlich.
Wir vernehmen die Anrufung um Erbarmen, wir vergegenwärtigen uns den Aufschrei gequälter
Menschen, die Achtung fordern vor dem Leben, über das zu verfügen, nur Gott berechtigt ist.

Es gibt keine Worte, die das Leid und den Schmerz fassen könnten.

In diesem Bewusstsein hören wir auf den Beter des Kaddish, des jüdischen Totenliedes:

„Erhoben und geheiligt werde sein großer Name auf der Welt, die nach seinem Willen von Ihm
erschaffen wurde – sein Reich entstehe in eurem Leben, in euren Tagen und im Leben des ganzen
Hauses Israel, jetzt und in nächster Zeit, sprecht: Amen! Sein großer Name sei gepriesen in Ewigkeit
und Ewigkeit der Ewigkeiten. Gepriesen und gerühmt, verherrlicht, erhoben, erhöht, gefeiert,
hocherhoben und gepriesen sei der Name des Heiligen, gelobt sei er, hoch über jedem Lob und
Gesang, jeder Verherrlichung und Trostverheißung, die je in der Welt gesprochen wurde, sprecht
Amen. Fülle des Friedens und Lebens möge vom Himmel herab uns und ganz Israel zuteil werden,
sprecht Amen. Der Frieden stiftet in seinen Himmelshöhen, er stifte Frieden unter uns und ganz
Israel, sprecht Amen.“

III.

In den vergangenen Tagen, nämlich am 14.10.2006, hat sich der Geburtstag von Hannah Arendt
zum 100. Mal gejährt. Sie hat mit ihrem Lebenswerk als Philosophin und politische Schriftstellerin
einen wesentlichen Beitrag zum Verstehen totalitärer Herrschaft geleistet. 1970 wurde sie von der Pforzheimerin Erica Loos fotografiert; ein weltberühmtes Foto ist entstanden, das Hannah Arendt
zeigt in ihrer Nachdenklichkeit, in ihrer Skepsis und auch in ihrer Verlorenheit.

Ein berühmtes Wort, das sie ihr Leben lang begleitet hat, lautete: „Ich will verstehen!“

Hannah Arendt meint, die eigentliche Ursache für die moralische Katastrophe während des Nationalsozialismus sei nicht der Einbruch der Kriminalität in den öffentlichen Raum oder der
Terror gegenüber dem Einzelnen gewesen, sondern die freiwillige Gleichschaltung derer, die sonst
zu Verbrechen nicht fähig gewesen seien.

Dies ist ein Aufruf zum geistigen Widerstand, zum Handeln vor dem Gewissen als zentraler Instanz in extremen Situationen und zur Verbindung Gleichgesinnter im Kampf gegen die Banalität des Bösen.

Mit Schmerz und Trauer erkennen wir, dass die Pogrome vom 09. und 10. November 1938
keine Proteste auslösten. Auch Saul Friedländer, der kürzlich eine Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden vorgelegt hat, verweist darauf, dass nicht eine einzige gesellschaftliche Gruppe,
keine Religionsgemeinschaft, keine Forschungsinstitution oder Berufsvereinigung in Deutschland
und in ganz Europa sich mit den Juden solidarisch erklärte.

Alle haben weggeschaut, die Reichen und Armen, die Intellektuellen und Arbeiter – auch das Ausland – und haben damit Hitler und seine Vollstrecker gestärkt, ihren bösen Plan, der alle Vorstellungen
bisheriger Zivilisiertheit sprengte, in die Tat umzusetzen.

IV.

Wir glaubten, die Krise der Moderne des 20. Jahrhunderts überwunden zu haben, ein Jahrhundert
der Ideologien und ihres äußersten Kampfes. Nun scheint uns ein Kulturkampf einzuholen, der sich zwischen den Gesellschaften der drei monotheistischen Religionen aufgebaut hat und politisch genährt
wird. Der islamistisch motivierte Terror gefährdet die Grundfesten unserer Existenz, ist aber auch eine Selbstgefährdung der islamischen Welt. Es handelt sich dabei nicht nur um Täter aus unterentwickelten Regionen, sondern auch aus westlichen Ländern, in denen den Einwanderern und ihren Kindern
Chancen gesellschaftlicher Integration und des gesellschaftlichen Aufstiegs geboten werden.

Bei der Integration von Zuwanderern in Deutschland ist unser Land rückständig; in den Landes-
regierungen und der Bundesregierung und in den Spitzen des Staates finden wir so gut wie keine
Deutschen mit Migrationshintergrund; eine Ausnahme macht lediglich der Bundesverfassungsrichter
Udo di Fabio, der von italienischen Einwanderern abstammt. Wir sehen, dass eine gesellschaftliche Teilnahme aller Gruppen an unserer Gesellschaft, an der Führung unseres Landes, noch längst nicht
erreicht ist; freilich: Mangelnde Integration rechtfertigt keine Gewalt.

V.

Am heutigen Tag sind wir aufgerufen, gegen jede Form der Missachtung und der Diskriminierung
bei uns Widerstand zu leisten. Das gilt für die Diskriminierung von religiösen Minderheiten, gegenüber Einwanderern und ihren Kindern, aber das gilt auch im Verhältnis von Angehörigen religiöser
Minderheiten und ihren Kindern zu den Eingesessenen.

Wir müssen unsere eigene Urteilskraft schärfen und mehr Verständnis für unsere eigenen Werte entwickeln. Die Verachtung des Westens durch Teile der muslimischen Welt hängt auch zusammen
mit der Auflösung unserer im christlich-jüdischem Denken wurzelnden Werte. Die Aufklärung ist das Ergebnis eines großen gesellschaftlichen Kampfes, der viel Blut und äußerste Anstrengung gekostet
hat. Dieser großen Menschheitsbewegung verdanken wir unsere Freiheit. Freiheit und Verantwortung
sind verbunden; den Wert der Freiheit neu zu verstehen und unseren Blick für die Würde des
Menschen zu festigen und zu erneuern, ist grundlegend für einen gesellschaftlichen Konsens des
Dialogs, der Toleranz und des Friedens. In keinem anderen Land gab es solch eine Symbiose
zwischen Deutschen und Juden. So war die Shoa, das Brandopfer, ein Brudermord.

Das heutige Gedenken soll erinnern und mahnen, und dennoch sind wir in unserer Trauer fassungslos.

Wir müssen uns auf den Urgrund unserer Existenz besinnen. Unsere Rechte sollen die Rechte
aller sein – in Frieden und Freundschaft.

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