Die komplette Rede von Reinhard Mürle, Oberstudiendirektor i.R., Pforzheim
zum 9. November 2007, am Platz der Synagoge
anlässlich der Reichprogromnacht
(„Reichskristallnacht“) am 9./10. November 1938

Anrede

Die Älteren unter Ihnen werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass in den späten vierziger Jahren, aber auch in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre die Diktatur der Nationalsozialisten und die Verbrechen des sog. „Dritten Reiches“ mehr oder weniger verdrängt und tabuisiert worden sind.
Ich habe nicht weit von hier 1959 mein Abitur gemacht – im Geschichtsunterricht wurden diese Themen nicht angesprochen, vielleicht einmal ansatzweise im Religionsunterricht.

Möglicherweise hat diese Verdrängung den Überlebenden von Diktatur, Krieg und Massenmord den Neuanfang erst möglich gemacht. Zu schwer zum Weiterleben wäre die Last der Vergangenheit gewesen.

Oft macht Verdrängen von schwerer Schuld oder auch von schrecklich Erlittenem das Weiterleben erst möglich, wie wir von der Psychologie wissen.

Aber Verdrängen, Tabuisierung und Vergessen sind keine Lösungen! Jedenfalls nicht auf Dauer!

Erst langsam rückten die Verbrechen der Nationalsozialisten in den Blickpunkt der deutschen Öffentlichkeit. Seit Mitte der sechziger Jahre begannen die jungen Menschen bohrende Fragen an die Eltern und Großeltern zustellen:

Wie war das im Dritten Reich?
Wie war das mit den Juden?
Wo warst Du damals?
Was hast Du gemacht?

Klaus von Bismarck hat einmal gesagt: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung!“

Das bedeutet: Nur wer sich erinnern kann und erinnern will, wer nicht Belastendes und Quälendes verdrängt, wer nicht unterdrückt, was an schlimmen Erinnerungen aus der Vergangenheit aufsteigt,
wer sich zu Versagen und Schuld bekennt, wer dazu „Ja“ sagt, indem er darüber redet, kann Erlösung
und vielleicht auch Vergebung finden.

Und Erlösung brauchen beide: Der Täter von seiner Schuld, das Opfer von seinen Wunden und
Schmerzen

Deshalb ist es gut, dass das Sprechen zwischen Juden und Deutschen wieder möglich geworden ist.
Es ist gut, dass allenthalben und zunehmend Gedenkstätten entstehen, die an den Völkermord an den Juden erinnern. Es ist gut, dass neue Museen und Ausstellungen zur Geschichte des Judentums in Deutschland eröffnet werden. Und es ist gut, dass zunehmend neue Synagogen , wie erst im letzten
Jahr in München, geweiht werden, weil sie zeigen, dass trotz der belastenden Vergangenheit wieder jüdisches Leben, jüdische Gemeinden und jüdische Gottesdienste zu unserer Gesellschaft gehören,
wie dies Jahrhunderte lang zur wechselseitigen Befruchtung gegeben war, bis dann die Nationalsozialisten jüdischen Leben in Europa benahe vernichtet hätten.

Wir haben uns hier am 9. November, diesem auch sonst schicksalhaften Datum, auf dem „Platz der Synagoge“, auf dem Platz des ehemaligen jüdischen Gebetshauses, zusammengefunden, um uns an
das zu erinnern, was Deutsche den Juden Europas angetan haben.

Nun gäbe es viele Daten, um an die Verfolgung und Ermordung der Juden, an die Shoa, zu denken:

Der 1. April 1933 mit dem Boykott-Tag gegen jüdische Geschäfte wäre ein solcher.

Der 15. September 1935 mit der Verkündigung der „Nürnberger Gesetze“ ein anderer.

Der 20. Januar 1942, der Tag der Wannsee-Konferenz ein weiterer Tag.

Man hat sich für den 9. November als Gedenktag entschieden, weil die Pogromnacht vom 9. auf den
10. November 1938 der gewalttätigste und deshalb spektakulärste Höhepunkt der Judenverfolgung vor dem Weltkrieg gewesen ist.

Die schlichten Fakten sind schnell in Erinnerung gerufen:

Nachdem im Januar 1933 das Reichskanzleramt und damit die Macht an Adolf Hitler und seine
NSDAP übergeben worden war, hat ein furchtbarer Leidensweg für die jüdischen Menschen in Deutschland und seit 1939 auch in Europa begonnnen, der schließlich im Massenmord der Shoa
geendet hat.

Ab Frühjahr 1933 werden langsam, dann immer schneller, die Juden aus allen Bereichen des
öffentlichen Lebens verdrängt:

Jüdische Beamte verlieren ihre Stellen, jüdische Studenten werden der Universitäten verwiesen,
jüdische Kulturschaffende ausgeschlossen.

Die „Nürnberger Gesetze“ von 1935 schließen die Juden als Reichbürger aus und erklären sie zu
bloßen Staatsangehörigen minderen Rechts. Ehen zwischen sog. Ariern und Juden werden verboten.

1938 verlieren jüdische Ärzte und Rechtsanwälte ihre Zulassungen, Juden dürfen keine Theater,
Schulen und Schwimmbäder mehr besuchen, Sie müssen zu ihren Eigennamen Zusätze tragen, „Sara“
die Frauen und „Israel“ die Männer. In ihre Pässe wird ein großes „J“ eingestempelt.

Das Pogrom vom November 1938 bedeutete dann den erstmaligen, flächendeckenden, reichsweiten Ausbruch von offener, brutaler, menschenverachtender Gewalt

Was war der Anlass?

Ein junger Jude, Herschel Grünspan, hatte am 7. November auf den Legationssekretär Ernst von Rath, Mitglied der deutschen Botschaft in Paris, geschossen. Es war eine Verzweiflungstat: Seine Eltern waren von Berlin Richtung Polen abgeschoben worden und vegetierten im Niemandland zwischen Polen und Deutschland. Von Rath erlag am 9. November seinen Verletzungen.

Joseph Goebbels, Reichpropagandaminister, ordnete einen „spontanen Sühneakt“ des deutsche Volkes
an. Per Fernschreiben und Eiltelegramm ging die Anordnung an alle SA und SS Dienststellen.

In Zivil griffen die Nazis zu: So kam es zur Pogromnacht vom 9. auf den 10. November.
Die Bevölkerung nannte diese Nacht wegen des vielen zerschlagenen Glases zynisch „Reichskristallnacht“

Es war die erste massenhafte Anwendung von brutaler Gewalt gegen jüdische Menschen, gegen
jüdische Kulteinrichtungen und gegen jüdisches Eigentum.

91 Menschen wurden getötet, über 250 Synagogen wurden verwüsten, geschändet und in Brand
gesteckt.

Mehr als 7500 Geschäfte würden verwüstet und geplündert, über 2500 Juden verhaftet.

Die Versicherungssummen wurden vom Reich beschlagnahmt.

Eine „Verordnung über die Wiederherstellung des Stadtbildes“ vom 12. November 1938 verpflichtete
die Juden, die Schäden selbst zu beseitigen und finanziell zu tragen.

Und schließlich wurde der jüdischen Bevölkerung noch eine Sühneleistung von 1 Milliarde Reichsmark auferlegt.

Man hat in diesem Zusammenhang durchaus zu recht vom „Räuberstaat Drittes Reich“ gesprochen.

Ich möchte einen kleinen Ausschnitt aus dem Tagebuch Jochen Kleppers vorlesen.

Jochen Klepper, gläubiger evangelischer Christ, war mit einer Jüdin verheiratet, die aus erster Ehe
zwei Töchter mitgebracht hat. Als die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten zunehmen, gelingt es einer der Töchter, auszureisen. Bemühungen, auch der zweiten Tochter, der 20 jährigen Reni , zur Flucht zu verhelfen, scheitern. Der Druck auf die deutsch-jüdische oder christlich-jüdische Familie nimmt zu. Schließlich, als die Deportation von Frau und Tochter bevorsteht , begehen die drei 1942 gemeinsam Selbstmord.

Jochen Klepper hat ein Tagebuch hinterlassen, das unter dem Titel „Unter dem Schatten Deiner Flügel“ später veröffentlicht wurde.

Von 1933 an schildert er ergreifend die zunehmende Bedrohung der Existenz, die allmähliche Ausgrenzung bis hin zur Lebensgefahr.

Er schreibt unter dem 10. November 1938:

„(…) Heute sind alle Schaufenster der jüdischen Geschäfte zertrümmert und in den Synagogen ist
Feuer gelegt,(..). Dass die Bevölkerung wieder nicht dahintersteht, lehrt ein kurzer Gang durch
jüdische Gegenden; ich habe es selbst gesehen, denn ich war heute Morgen gerade im Bayerischen
Viertel. Was wird man an Maßnahmen wieder aus diesem neuen „Aufflackern der Volkswut“ ableiten?
Es ist ein neuer, furchtbarer Schlag. (…) Aus den verschiedenen „jüdischen“ Gegenden der Stadt hören wir, wie ablehnend die Bevölkerung solchen organisierten Aktionen gegenübersteht. (…) Anders steht es aber wohl bei der alle deutsche Jugend erfassenden und erziehenden Hitler-Jugend . Ich weiß nicht, wieweit die Elternhäuser da noch ein Gegengewicht sein können.“

Und am Ende der Eintragungen für diesen 10. November schreibt er:
„Wie man im Schlaf aufschrickt – als würden Hanni, Brigitte, Renerle abgeholt-, das sagt genug.“

Dies Zeilen zeigen aus der subjektiven Sicht des Schriftstellers aus Berlin zumindest, dass nicht alle Deutschen die Verbrechen der Nationalsozialisten gebilligt haben.

Auch aus Pforzheim sind Berichte erhalten, die eher Betroffenheit als Zustimmung zeigen.

Denn auch in Pforzheim wurden in jener Nacht, an die wir heute denken, jüdische Wohnungen
verwüstet, Juden körperlich misshandelt und zum Teil schwer verletzt.

Über zwanzig jüdische Männer aus Pforzheim wurden in des Konzentrationslager Dachau eingeliefert.

Am Morgen des 10. November zertrümmerte die SA die Schaufenster jüdischer Geschäfte.
Die Synagoge wurde demoliert, geschändet, Thora-Rollen und andere Kultgegenstände auf die
Straße geworfen.

Das Gebäude wurde durch einen Sprengsatz stark beschädigt. Die Kosten für den schließlichen
Abriss musste die jüdische Gemeinde aufbringen.

Bei diesem reichsweiten Pogrom war die Polizei angewiesen worden, sich ruhig zu verhalten.
Sie verhielt sich ruhig.

Aber, und das ist unser Problem heute, auch die Mehrzahl der Deutschen verhielt sich ruhig., auch die Christen. Die meisten schauten einfach weg. Sie waren nicht begeistert, eher peinlich berührt und
betreten, aber sie schwiegen.

In jener Nacht, und nicht nur in jener Nacht, wurde ein Großteil der Deutschen schuldig. Denn die Verbrechen des Dritten Reiches wurden ja nicht nur in „deutschem Namen“ verübt, wie oft
verharmlosend gesagt wird. Sie wurden von Deutschen vor den Augen der Deutschen und oft unter Billigung oder zumindest unter Duldung der Deutschen begangen. Schuld besteht ja nicht nur im Tun
und Handeln, sondern auch im bloßen Zulassen oder auch im bloßen Wegsehen.

Nach dieser Reichspogromnacht waren die Dämme gebrochen: Es folgten weite Berufsverbote,
es folgten verstärkt Schließungen, Enteignungen , sog. Arisierungen jüdischer Geschäfte.

Von jetzt war nur noch ein kurzer Schritt zur Wannsee- Konferenz im Januar 1942 und zur Errichtung
der Vernichtungslager Auschwitz, Belzec, Treblinka, Chelmno, Sobibor und Maidanek.

Der deutsch-jüdische Dichter Paul Celan hat in seinem Gedicht „Todesfuge“, das er den Opfern
der Shoa gewidmet hat, in den Schlussversen geschrieben:

Schluss der „Todesfuge“

Es gibt viele Erklärungsversuche, warum das Unvorstellbare, der Völker- und Massenmord, in
der Mitte Europas möglich gewesen ist,

Ich denke, dass vor allem eine überdimensionierte Staatsgläubigkeit, ein Mangel an Widerspruchsgeist,
an Zivilcourage und an Mut erst alles möglich gemacht hat.

Wobei niemand sagen kann, wie er sich verhalten hätte, hätte er in jener Zeit gelebt.

Und dieser Gedanke ist vielleicht der bedrückendste!

Deshalb ist es gut, dass über diese belastende Vergangenheit geredet wird.

Nicht nur unter den Deutschen, nicht nur unter den Juden.

Es ist gut, dass ein Gespräch möglich geworden ist zwischen Tätern und Opfern, zwischen Deutschen
und Juden. Dass ein Gespräch über die gemeinsame Vergangenheit eingesetzt hat, dass die Erinnerung wachgehalten wird.

„Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“!

Erinnern bedeutet auch „ver-innern“, „ver-innerlichen“, „in sich aufnehmen.“

Um unsertwillen und um des jüdischen Volkes willen darf nie vergessen werden, – so lange es
Deutsche und Juden gibt- was Deutsche den Juden angetan haben.

Denn nur dann kann aus dem Sprechen über das „Un-Heil“ so etwas wie Heilung, Versöhnung erwachsen.

Ich danke Ihnen

(Es gilt das gesprochene Wort)

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