Bruderschaften des späten Mittelalters
und der Frühen Neuzeit
als Wurzelgrund der Löblichen Singergesellschaft

Vortrag
Prof. Dr. Franz J. Felten
Mittelalterliche Geschichte und Geschichtl. Hilfswissenschaften
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Historisches Seminar II (Mittelalterliche Geschichte)

anlässlich des Festakts zum 500-jährigen Bestehen der Löblichen Singergesellschaft von 1501 Pforzheim am 20. Juli 2001 in der Stadtkirche Pforzheim

Im folgenden geht es um Alter, Entfaltung und Blüte der Bruderschaften und verwandter
Gemeinschaften, die vor allem in der Zeit aufblühten, die man verkürzt „Vorabend der Reformation“
nennt – die ihrerseits Denken und Handeln der Menschen grundlegend veränderte, mit tiefgreifenden Konsequenzen auch für die Bruderschaften.

Es ist dann vor allem nach denen zu fragen, die solche Gesellschaften ins Leben gerufen und sie
getragen haben, nach ihren Ängsten, Wünschen und Hoffnungen.
Wer trat einer Bruderschaft bei?
Welche Ziele verfolgten er oder sie?
Aus welchen Motiven wurden sie aktiv?
Hier geben uns die viel besser dokumentierten Bruderschaften und Gesellschaften aus Franken
und vom Oberrhein, aus Freiburg und Köln reiche Antwort

Von diesem Vergleich aus soll schließlich ein wenig Licht auf die dunklen Anfänge der Pforzheimer Singergesellschaft fallen.

Bei dieser geschichtlichen Betrachtung geht es um reale Gegebenheiten ebenso wie um Denkformen,
um das Sein wie das Bewußtsein, die beide das Handeln der Menschen bestimmen. – Das Bild,
das die Menschen sich von der Wirklichkeit machen, beeinflußt sie meist mehr als diese selbst.
Nicht die Pest als solche, nicht die vielberufenen sozioökonomischen Veränderungen haben
Bruderschaften hervorgebracht, sondern Menschen, die auf diese Herausforderungen reagierten.

Wir müssen also etwas versuchen, was eigentlich unmöglich ist, in ihre Köpfe und Herzen
hineinzuschauen. Wir müssen uns zurückversetzen in eine den meisten von uns ferne Welt, die
anders lebte und dachte als unsere moderne, aufgeklärte, säkularisierte Gesellschaft – auch und
gerade über die Dinge, die für die alten Bruderschaften wichtig waren: über den Tod und alles,
was damit zusammenhängt. Denn die Sorge um Begräbnis und das Gedenken nach dem Tod ist
nicht nur ein Grundanliegen der Menschen seit unvordenklichen Zeiten, sondern ist der Kern
unseres Gegenstandes; daher ist nachdrücklich an die religiösen Voraussetzungen all dieser
Bruderschaften zu erinnern. Sie wären nicht so entstanden, wie sie uns in Texten, Bildern, Objekten sichtbar werden, hätten die Menschen vor der Reformation in zwei Punkten nicht entscheidend
anders gedacht als die meisten von uns: Wer lebt noch in dem Bewußtsein ‚Mitten wir im Leben sind
mit dem Tod umfangen‘ – wie es im uralten Kirchenlied heißt, das schon Martin Luther sang?
Wer richtet sich danach? Unsere Lebenserfahrung sagt uns, Umfragen bestätigen es, daß die
allermeisten Zeitgenossen den Gedanken daran verdrängen, sich einen plötzlichen, möglichst
schmerzfreien Tod wünschen – just den Tod, den die Menschen des späten Mittelalters über alles fürchteten. Sie beteten zu Gott und den Heiligen, vor dem jähen Tod verschont zu werden, der
keine Zeit mehr ließ, sich auf die letzten Dinge vorzubereiten: „O heiliger Sebastian, wir rufen dich
von herzen an/ Komm uns zu hilf in dieser Not. Bewahre uns vor jähem Tod“ (Pforzheim 1993,
S. 173). Christophorus-Bilder erinnern noch heute daran, daß ein frommer Blick darauf, ein
Stoßgebet wenigstens für den Tag schützen sollte.

Jeder wußte, wie er sich auf den Tod und das Leben danach vorbereiten sollte – durch ein
gottgefälliges Leben und gute Werke. „Pro remedio animae“, zum Heil der Seele, schenkte man
an Kirchen und Klöster, bedachte man Arme und Aussätzige, stiftete ‚Seelgeräte‘ – zweckgebundene Vermögensteile, aus deren Ertrag genau definierte Gebetsleistungen finanziert wurden.

Ein Pforzheimer Erblasser beispielsweise legte 1516 fest, wo und wie feierlich er begraben, wie
viele Messen für ihn gelesen, wie der 7. und 30. Tag und sein Jahrtag begangen werden sollten –
jeweils mit Vigil (Gottesdienst am Vorabend) und Seelenmessen am nächsten Morgen. Die Armen
wurde jeweils mit Brot im Wert von anderthalb Gulden bedacht – damit sie für den Spender beteten.
Der Pfarrer sollte am Sonntag oder Freitag das Ableben von der Kanzel verkünden und die Menschen
in der Kirche zu Fürbitten auffordern. Als Gegenleistung finanzierte er fünf Messen für sie
(Pforzheim 1993, S. 192).

Das ist noch ein sehr einfaches Seelgerät. Gerade im Spätmittelalter zeigt sich hier eine zunehmende Genauigkeit und Häufung, mit sehr detaillierter Verteilung auf verschiedene Empfänger, so daß man
von rechenhafter Frömmigkeit, ja von ‚Buchhaltung des Jenseits‘ gesprochen hat (Chiffoleau, Lentes).

Für den Gedanken der Bruderschaften entscheidend war nun, daß man den geistlichen Ertrag der Fürbitten, Gebete, Messen anderen, auch Verstorbenen, zuwenden konnte: Es ist heilsam, für die Verstorbenen zu beten, so konnte man schon in der Bibel, im 2. Buch der Makkabäer lesen, erst
Luther wies es 1534 den Apokryphen zu. Und je anschaulicher sich der Zusammenhang von
Sünden und Strafen im Bild der Armen Seelen im Fegefeuer konkretisierte, man denke an die
einschlägigen Bilder, vor allem wiederum aus dem späten Mittelalter, desto dringlicher war das
Bedürfnis, die Zeit der Leiden nach dem Tod zu vermeiden oder abzukürzen.

Hier boten die Bruderschaften all jenen eine große Hilfe, die nicht über reiche eigene Mittel verfügten.
Sie gewährleisteten ihren Mitgliedern ein Mindestmaß an Gebet und liturgischem Gedenken.
Ob im 6. Jahrhundert bei armen Landklerikern in Gallien oder im 11. Jahrhundert bei den
wagemutigen Kaufleuten in Holland und Frankreich, im 12. Jahrhundert bei den ältesten
Handwerkergilden in Köln und in Cambridge, im 13. Jahrhundert in Trier und Basel, im 14. und
15. Jahrhundert allüberall, – wo uns Statuten überliefert sind, gilt: „Der überragende Zweck einer
jeden Bruderschaft bestand in der Totenmemorie“ (Militzer, Einleitung). Sie ist nur für die
Bruderschaften nicht nachweisbar, für die entsprechende Quellen fehlen“.

Im Laufe der Zeit bildeten sich feste Bräuche heraus: Nach dem mit ausgesuchter Feierlichkeit
begangenen Begräbnis wurde des Verstorbenen am dritten, 7. und 30. Tag, sowie am Jahrestag
individuell mit Seelmessen gedacht. Zumindest an den vier Fronfastentagen im Jahr, am
Bruderschaftsfest und an Allerseelen wurde die kollektive Memoria gefeiert. Gerade die
Bruderschaften des Spätmittelalters legten hier aufs genaueste Zahl und Form der Gebete und
Messen fest – einschließlich der Vertragstrafen, falls die Priester ihrer Pflicht nicht nachkamen.
– 30 Heller zugunsten der Kranken im Spital und im Leprosenhaus St. Georg hatten sich die
Pforzheimer Schneider 1447 für den Fall ausbedungen, daß Pfarrer und Frühmessner von
St. Michael ihre mit 30 Pfund Heller erkaufte Jahrzeit nicht pünktlich hielten
(Pforzheim 1993, S. 201).

Bei diesem hohen Rang geistlichen Gedenkens verliert die in der Forschung seit jeher und z.T. in
scharfen Tönen geführte Diskussion, wie die einzelnen Typen von Bruderschaften zu unterscheiden
und zu benennen seien, doch sehr an Brisanz . In diesem Rahmen ist es nicht angebracht, auf Fragen
der Typologie und der Terminologie einzugehen (Überblick etwa Militzer, Einleitung; Vauchez).
Nur soviel sei nachdrücklich betont: Gewerbliche Zünfte, Gilden und Gesellschaften der Kaufleute
und Handwerksgesellen regelten nicht nur ökonomische und soziale Dinge, sondern auch und vor
allem religiöse. Umgekehrt konnten scheinbar rein religiöse Heiligenbruderschaften, die im
15. Jahrhundert in zunehmender Zahl gegründet wurden, zu Ehren Gottes und seiner Mutter,
zu Ehren des Altarsakraments oder einzelner Heiligen, unter bestimmten Umständen eine
Art ‚Ersatzzunft‘ sein, dort nämlich, wo Zünfte verboten wurden, wie im Hochstift Würzburg
(Remling), oder ganze Handwerke aus dem System der politisch dominierenden Zünfte
ausgeschlossen waren, wie in Freiburg seit 1459 (Gerchow).

Diese Vielfalt der Ziele und Ausdrucksformen, unsere französischen Kollegen sprechen von
einem „caractère plurifonctionnel très marqué“ (Vauchez, S. 473f), die lange Geschichte seit der
Antike bis in unsere Tage, die weite Verbreitung in ganz Europa, ihre Universalität (Vauchez ), ja Massenhaftigkeit (Militzer ), der Reichtum ihres schriftlichen und materiellen Erbes, von Altartafeln
und liturgischem Gerät bis zur Ausstattung ihrer Trinkstuben, erklärt auch, warum die Bruderschaften
so interessant sind für Historiker und Theologen, für Volkskundler und Kunsthistoriker, ja selbst
Musik- und Literaturwissenschaftler – und warum noch soviel auf diesem Felde zu tun ist.

Bis heute ist z.B. nicht genau geklärt, ob und wie die ma Bruderschaften mit Vorformen in der
heidnischen und christlichen Antike zusammenhängen, mit den brüderlichen Gemeinschaften um
Pythagoras und Qumran, mit den römischen Begräbniskollegien oder den Brudergemeinden der Urchristen.

Wieweit wirkten germanische Einflüsse nach, etwa im gemeinsamen Mahl, das fast immer
Bestandteil der Gildefeiern, und der Bruderschaftsfeste war, bis heute bei den Singern?
Was ist mit angeblich vorchristlichen Totenbräuchen, mit denen die Lebenden sich vor den Toten
schützen wollten?

Gesichert ist hingegen, europaweit, daß die Blütezeit der Bruderschaften im Spätmittelalter lag,
in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation. In Köln, das mit inzwischen 119 nachgewiesenen Laienbruderschaften in Deutschland an der Spitze steht (auch in der Dokumentation dank der monumentalen Edition Militzers) ist nur ein Viertel vor 1400 belegt, ein Drittel entstand allein
zwischen 1450 und 1499, ein weiteres Viertel bis 1549 (Militzer, Einleitung). In Franken wurden
die allermeisten zwischen 1480 und 1517 gegründet, nur einige wenige sind älter (Remling, S. 240).
In Freiburg sind alle vier religiösen Bruderschaften zwischen 1475 und 1513 erstmals nachzuweisen (Gerchow). In Pforzheim stammen drei, darunter die der Bäcker und Schneider aus dem ersten
Drittel des 15. Jahrhunderts; die der Tucher und Weber folgten 1469, die der Wollweber und
Weingärtner um 1486/1491. Schiffer und Flößer bekamen 1501, die Fuhrleute erst 1512 eigene Bruderschaften (Pforzheim 1993, S. 199f.).

Was lernen wir aus dieser kleinen Statitstik? Wir werden gewarnt, die Entstehung der Bruderschaften
allzu direkt mit dem Schwarzen Tod in Verbindung zu bringen, der Europa seit 1348 heimsuchte und
um so größeren Schrecken verbreitete, als man seit Jahrhunderten von der Pest verschont geblieben
war. Kaum einmal ist, soweit ich sehe, eine direkte Verbindung zwischen dem Auftreten der Pest und
dem Entstehen einer Bruderschaft nachzuweisen, nicht einmal bei den Sebastians-Bruderschaften
– obwohl er im 15. Jahrhundert zum Pestheiligen par excellence avancierte.

Auch Hunger und Krieg, die weiteren apokalyptischen Reiter, kann man nicht ohne weiteres
verantwortlich machen. Hungersnöte gab es schon lange vor der Großen Pest, Kriege ohnehin, in Deutschland übrigens viel weniger als in England und Frankreich oder Italien. Für viele Menschen, insbesondere diejenigen, die für ihr Brot arbeiten mußten, waren das 14. und 15. Jahrhundert
– insgesamt gesehen – keine schlechte Zeit.

Und doch, so scheint es, hat die Pest, haben die ökonomischen und sozialen Veränderungen
in den wachsenden Städten etwas mit der Entstehung von Bruderschaften zu tun – indirekt
gewissermaßen. Wie man erst allmählich lernte, medizinisch und organisatorisch auf die Pest
zu reagieren (konsequente Quarantäne etwa, die wirksamste Form der Abwehr, wurde erst
Jahrzehnte nach dem ersten Auftreten praktiziert), so bedurfte es offenbar der Erfahrung wiederholter Pestzüge, um langfristig wirksame Bewußtseins- und Verhaltensänderungen zu verursachen.

Darin sieht man heute eine wesentliche Ursache für die drastisch gesteigerte Frömmigkeit des
späten 14., 15. Jahrhunderts; freilich erkennen wir eher die neuen Formen religiösen Verhaltens,
in den aufblühenden Bruderschaften etwa, als daß wir schlüssig erklären könnten, auf welche
Bedürfnisse sie jeweils antworteten. Es ist auch leichter, pauschal von destabilisierenden Folgen der Verstädterung und der wachsenden Differenzierung im gewerblichen Leben zu reden, als sie konkret
zu schildern, zumal sich hier leicht ein romantisierender, sozialkritischer Tonfall einstellt.

Wie man sich die Zusammenhänge vorzustellen hat, sei am Beispiel der Handwerksgesellen am
Oberrhein konkreter dargestellt. Denn vor allem am Oberrhein schossen in der ersten Hälfte des
15. Jahrhunderts Gesellenbruderschaften wie Pilze aus dem Boden – offenbar, wie die Quellen
nahelegen, in direktem Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um Lohn und Arbeitsbedingungen.
Bei genauerem Hinsehen aber erscheinen die Gesellen nicht als arme Unterdrückte, die sich in die Geborgenheit der Bruderschaft flüchteten, gar dem „Opium der Religion“ hingaben, um sich über die Mühsal ihrer Ausbeutung hinwegzutrösten. Nein, sie treten uns vielmehr als selbstbewußte
Verfechter ihrer Interessen entgegen, die sie durch Zusammenschlüsse über die eigene Stadt hinaus wahrnahmen und ihre Meister wie die städtischen Obrigkeiten zu Abwehrmaßnahmen veranlaßten (Schulz). Schon das Bestreben, die eigenen Angelegenheiten selbständig zu regeln, die genossen-
schaftliche Organisation, erst recht, wenn sie durch Eid bekräftigt war, machte freilich alle Selbsthilfeorganisationen seit dem Beginn des Mittelalters den Herrschenden verdächtig.
Das galt selbst für fromme Vereinigungen, die „der heyligen jungfrauen marie.. zu lobe, eren,
um des ewigen heyls willen“, gegründet wurden, wie die der Wimpfener Schneidergesellen 1406,
oder „got, seiner muter ..zu eren, allem himmmlischen heere zu wirde und allen gläubigen selen zu
trost und zu hilf“ gewidmet waren, wie die der Bäcker und Müller derselben Stadt 1486 (Endriss).

In den Statuten wurden nicht nur soziale Anliegen verfolgt – vor allem Fürsorge im Krankheitsfall,
sondern auch und vor allem religiöse Ziele. Immer wieder ist die Rede von Kerzen, die in den
Kirchen brennen und bei Prozessionen und Begräbnissen mitgeführt werden, von Grablege und
Begängnis, von Seel- und anderen Messen, an der alle Mitglieder teilnehmen sollten, wie man in
Basel und Freiburg, in Colmar und Straßburg, aber auch in Pforzheim beobachten kann.

Hier gründeten 1423 drei Bäckergesellen in Absprache mit den städtischen Pflegern eine Bruderschaft
am Heilig-Geist-Spital, um ihr Seelenheil zu besorgen. Viermal im Jahr, zu den Quatembertagen,
sollten Gottesdienste für sie im Spital gefeiert werden, einmal im Jahr besonders feierlich, mit Vigil am Vorabend, einem gesungenen Seelenamt und drei Stillmessen am Tag selbst. Von der Kanzel waren
die Namen der Verstorbenen zu verlesen; so wurden sie wieder gleichsam wieder gegenwärtig
(Oexle), die Anwesenden waren zum Gebet für sie aufgefordert. Jedem Kranken im Spital waren ein halbes Maß Wein und ein Brot auf Kosten der Bruderschaft zugedacht. Gleichzeitig erwarben die
Bäcker Belegungsrechte im Spital und eine Grabstelle auf dem Friedhof (Pforzheim 1993, S. 205).

Die ‚lobliche Zunft‘, zu der sich 1436 in Iphofen bei Kitzingen 36 Meister und 10 Gesellen zusammenschlossen, „got zum ewigen lobe, zu eren seiner werden mutter“ usw., regelten detailliert
die Präsenz mit Kerzen bei Prozessionen und Begräbnissen, die feierliche Gestaltung der Jahrtage –
bei denen der Pfarrer mit allen Kaplänen und Schülern singen sollte (Remling, S. 321).

Diese Zusicherung von gleichsam kumulierten Gebeten und Anteilen an Gnadengaben, nicht zuletzt Ablässen, aber auch die feierliche Gestaltung des Begräbnisses – ‚die schöne Leich‘ – bei
moderatem finanziellen Aufwand machte die Bruderschaften attraktiv auch für Menschen, die dem Handwerk nicht angehörten. Manche warben sogar damit: „item das ein yegklich cristen mensch destgeneigter sig, zu dieser bruderschafft zukommen“, legte die Freiburger Sebastiansbruderschaft
1499 in einem Vertrag mit den Barfüßern ganz genau fest, wie der Konvent und die Bruderschaft
„den totten lib mit eren .. und mit einer loblichen proceß zum grab begleiten“ sollten (Gerchow, S. 19).
Bei den Basler Schneidergesellen konnten 1463 denn „ouch ander erber lüte, sie sient unsers
antwerkes oder nüt, frowen oder man“ Mitglied werden (Schulz, S. 167). Die Freiburger Bäcker
boten schon 1420 Handwerksfremden, „er sye fröwe oder man“ Mitgliedschaft bzw. Teilhabe an den bruderschaftlichen Leistungen (Gerchow, S. 44)). In der Tat finden sich im Bruderschaftsbuch
der Basler Müllergesellen 1518 vielfach handwerksfremde Brüder und Schwestern, die an den
materiellen und immateriellen Leistungen der Bruderschaft teilhatten (Schulz, S. 167).

Diese prominente, ja dominante Betonung von Begräbnis und Totengedenken hinderte die
Bruderschaften freilich nicht, zumindest gelegentlich als Kampforganisationen in Arbeitskonflikten zu fungieren – und sie wurden als solche von den Meistern und der politischen Obrigkeit auch bekämpft. Nicht selten versuchten Meister und Städte, sie ganz zu verbieten, zumindest aber auf religiöse Ziele
und Hilfe im Krankheitsfall zu beschränken – wie in der großen rheinischen Knechtsordnung von
1436, die für zahlreiche Städte gelten sollte und mehrfach erneuert wurde (Schulz, S. 166).
Der Verdacht, daß die finanziellen Mittel der Bruderschaft nicht nur für Gottesdienste und zur Unterstützung von Kranken und Schwangeren eingesetzt wurden, sondern auch Streikenden
zugute kamen – war wohl nicht selten begründet, auch wenn die Gesellen ihn zurückwiesen
(Schulz, S. 112).

Wie eng freilich religiöse und soziale Belange zusammenhingen, zeigt der wohl härteste ‚Arbeitskampf‘,
von dem wir in der Zeit um 1500 wissen. Mit ihren wertvollen Kerzen hatten die Colmarer Bäcker-knechte das Recht erworben, in der Fronleichnamsprozession den Ehrenplatz ganz dicht beim Allerheiligsten einzunehmen. Andere Gesellen, vor allem die Bader, hatten nachgezogen und die
Bäcker von ihrem angestammten Platz verdrängt. Als die Bäcker auch mit vier neuen vergoldeten Stangenkerzen im Wert von 124 Gulden ihren früheren Rang nicht wieder erlangten, obwohl sogar
der Stadtrat sich für sie einsetzte, verließen sie 1495 tief gekränkt heimlich die Stadt. Ihre Verbitterung wuchs, als der Stadtrat sie nach Läuten der Ratsglocke, in feierlichem öffentlichen Akt also, deshalb
für eidbrüchig erklärte. Das aber war eine so tiefe Verletzung ihrer Ehre, daß die oberrheinischen
Gesellen zehn Jahre lang Colmar boykottierten, allen Versuchen, sie mit Gerichtsurteilen oder auch
im Guten in die Stadt zurückzubringen zum Trotz. Als die Städte sich gegen sie verbündeten,
reagierten die Gesellen ihrerseits mit überregionalen Zusammenschlüssen. Als der Straßburger
Stadtrat die dortigen Bäckerknechte zwingen wollte, in ihrer Bruderschaft Gesellen zu dulden, die in Colmar gearbeitet hatten, verließen sie die Stadt. Als nach Jahren endlich ein Kompromiß vermittelt werden konnte, der deutlich zugunsten der Gesellen ausfiel, waren Vertreter von Bruderschaften aus
acht Städten beteiligt (Schulz, S. 110).

Unübersehbar ist hier die enge Verflechtung von öffentlicher Frömmigkeit und sozialem Prestige.
Der Platz in der Prozession, das repräsentative Auftreten vor der ganzen städtischen Öffentlichkeit,
tangiert die Ehre der ganzen Korporation – und erst recht der Vorwurf des Eidbruchs. Mit dem
Verlangen, „das man widerumb an die glock schlug unnd inen da – d.h. in einem gleichwertigen
öffentlichen Akt – ire ere widergeb“, klagten die Knechte vor dem königlichen Hofgericht, ja zogen
bis vor das Reichskammergericht in Frankfurt.

Die Ehre – und mehr – stand auch auf dem Spiel, als der Rat von Kitzingen den Bruderschaften
untersagte, an ihre Prozessionskerzen besondere Zeichen zu hängen, d.h. sich öffentlich quasi als
Zunft darzustellen (Remling, S. 320) – ein Beleg unter vielen für die Bedeutung, die man damals
Dingen beimaß, die manchem von uns als Äußerlichkeiten erscheinen mögen.

Die immer wieder erwähnten großen Kerzen, die reichen liturgischen Gewänder und Geräte,
der Schmuck von Altären, Kirchen und Kapellen, den die Bruderschaften finanzierten, waren
nicht nur Ausdruck der Frömmigkeit, sondern auch des Wunsches, Leistungsvermögen und Rang
der eigenen Bruderschaft öffentlich zu demonstrieren. Deshalb sollte die Bruderschaftskerze des
Baseler Baugewerbes in St. Martin ein Schild mit den Zeichen der vier in ihre vereinten Gewerke
tragen (Schulz, S. 192). Deshalb überboten sich die Kölner Handwerker im Schmuck ihrer
Kerzenbalken im Dom; die der Kannegießer und der Schneider kann man noch heute bewundern.

Das hier sichtbar werdende Bedürfnis, sich einen Platz in der Gesellschaft zu sichern, hört mit dem
Tod nicht auf – im Gegenteil, und wird daher zu der Grundlage der Bruderschaften – im materiellen
wie immateriellen Sinn. Gerade für Menschen, die nicht auf ein großes eigenes Vermögen zurück-
greifen konnten, oder wie die Gesellen häufig in der Fremde lebten, bot die Bruderschaft Fürsorge
in der Not wie im Tod. Zugleich stellte sich die Bruderschaft in der oft repräsentativen Grablege, in
der feierlichen Gestaltung des Begräbnisses und ihrer Gottesdienste, beim prominenten Auftritt in den
großen Prozessionen in der städtischen Öffentlichkeit dar. Daher die detaillierten Anweisungen, mit
wieviel Brüdern und Kerzen die Toten vom Sterbehaus abgeholt und zu Grabe getragen werden
sollten, daher die Pflicht, daß alle Mitglieder vollzählig und anständig gekleidet dem Sarg folgten. Beschieden sich Pforzheimer Weber mit einem schlichten Stein, um ihre Grablege in St. Michael zu kennzeichnen (Abb. Pforzheim 1993, S. 202), so war der Erwerb „dreier Gewölb uff dem heiligen gotzacker zu nechst oben an der capellen“ beim Münster 1516 den Freiburger Bäckern, Meistern
und Gesellen, 120 Gulden wert – und noch im 18. Jahrhundert stritten sie mit dem Rat um ihre
Benutzung (Schulz, S. 190).

Überhaupt zeigen Konflikte, worum es den Beteiligten ging: In Würzburg z.B. wurde 1483 ein
Streit zwischen den Minoriten und den Schmiedeknechten vor dem Rat verhandelt. Die Schmiede
hatten einen Bruder bei St. Peter bestattet, statt bei den Franziskanern, wo sie eine Grablege in
der Kirche hatten. Warum? Die Schmiede hatten nicht akzeptiert, daß die Franziskaner den Toten
’nur‘ auf dem Friedhof hatten bestatten wollen (Remling, S. 308).

Diese kursorischen Ausführungen sollten deutlich machen, wie sich die Löbliche Singergesellschaft
von 1501 in die hier skizzierte Welt einordnet, auch wenn wir keine Urkunde oder Statuten aus
der Zeit ihrer Gründung haben und die ältesten Statuten von 1701 kaum mehr an die Zeugnisse
erinnern, die uns immer wieder begegnen, wenn wir uns mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaften näher befassen.

Das darf uns nicht wundern, denn zwischen 1501 und 1701 liegen nicht nur 200 Jahre, sondern
ein Ereignis, das auch die Welt der Bruderschaften radikaler veränderte als je eines zuvor in mehr
als 1000 Jahren: Die Reformation, die eine Grundfeste der Bruderschaften erschütterte, indem sie
den Glauben an die Verdienstlichkeit der guten Werke und der Fürbitte für die Toten verwarf. Er widersprach der fundamentalen Erkenntnis Martin Luthers, daß der Mensch sein Heil nur dem
Glauben und der Gnade Gottes verdanke – und nicht der „werckerei“. Statt eines der vielen
möglichen Lutherworte, sei hier der Pforzheimer Hans Greiffenberger zitiert, der 1523/24 in seinen Traktaten vor falschen Propheten warnte, aber auch vor „dem Meß kauffen, opffergelt, todten
besingen, jartäg stifften“ (Pforzheim 1993, S. 221) – was gerade Aufgabe der Bruderschaften war.

Diese theologisch fundierte Kritik, nicht die seit Jahrhunderten gewohnte moralisierende Polemik
gegen Auswüchse bei Gilden– und Brudermahlzeiten, – jenes „fressen, sauffen, unnutz gelt vorthun“,
von dem Luther sprach (Von den Bruderschaften, Weimarer Ausgabe, 2, S.754), das er als „unfug“,
ja als ‚tolles Wesen und säuischen Brauch‘ verurteilte (ebd. S. 756), entzog den Bruderschaften
– wie auch den Klöstern und Stiften – ihre Legitimation.

In Straßburg und in anderen reformierten Städten, wo die Quellen erhalten sind, können wir genau
sehen, wie die neue theologische Erkenntnis in praktische Politik umgesetzt wurde. Mit ihren religiösen Kernaufgaben verloren die Bruderschaften Beiträge, Mitglieder – und ihr oft beträchtliches Vermögen.
Als die Bäcker von Straßburg darum baten, es wenigstens für ihre Kranken verwenden zu dürfen,
mußten sie sich vom Stadtrat dazu noch sagen lassen, daß ihr Aufwand für Kapelle, Beinhaus, Meßgewänder und Kirchenschmuck einst „für ein guot werck angesehen worden ist, aber das alles
disser zyt nymmer von noten ist“ (Schulz, S. 193). Die Straßburger Schlosser- und Sporergesellen
hatten 1536 diese Lektion gelernt: Sie erklärten, ihre früher geübten „ceremonien“ wie „meßlesen,
leibfellen und andern ceremonien“ seien „wider rechten christlichen verstand gericht gewesen“, als sie versuchten, eine „neue Bruderschaft“ zu konzipieren, „damit allhie, in disser statt wie in andern hantwerksgewonheit ghalten wurde“. In den neuen Statuten „zu guttem und nutz den gsellen und
jüngern auch gemeinem hantwerk“ finden sich nur noch soziale und arbeitsrechtliche Funktionen,
„von den zentralen bruderschaftlichen Elementen, den Beziehungen zum kirchlichen Bereich, ist
dagegen nichts übriggeblieben“ (Schulz, S. 194f).

Ähnlich dürfte die Entwicklung auch in Pforzheim verlaufen sein, wo man schon 1533 das Vermögen
der Bruderschaften zugunsten des allgemeinen Almosens unter städtischer Aufsicht zusammenlegte,
noch bevor 1556 die Reformation endgültig in der Stadt siegte. So erscheint es erklärlich, daß die ‚Löbliche Singergesellschaft von 1501‘ sich 1701 nicht mehr auf das stützen konnte, was wir als
Kern der vorreformatorischen Bruderschaften kennengelernt haben, was Martin Luther und andere Reformatoren aber als „Bepstlichen Grewel… abgethan“ hatten, d.h. „Vigilien, Seelmessen, Begengnis, Fegfewr und alles ander Gauckelwerck fur die Todten getrieben“ (Vorrede, Ein schönes geistliches
Lied zu singen zum Begräbnis der Verstorbenen, Weimarer Ausgabe 35, S. 478f.).

Nach Auskunft der Statuten von 1701 war der Totendienst der Singergesellschaft auf die theologisch unverfängliche, sozial bedeutsame Sorge für eine ehrenvolle Ausgestaltung des Leichenzuges, die auch Luther gebilligt hatte, und eine bloße Erinnerung an die Toten bei der jährlichen Versammlung
beschränkt. In die nachreformatorische Zeit paßt auch, daß die Gesellschaft nicht auf eine Bruder-
schaft zur Ehre Gottes, seiner Mutter oder irgend eines Heiligen, Sebastians etwa, zurückgeführt wird, sondern im Stammbuch nur ganz zurückhaltend nachträglich notiert wird: „Diese Löbl[iche] Singergesellschaft rührt von Einer erschrecklichen pest zeit her, Im Jahre 1501, wo sich niemant mehr
zu dem Anderen getrauet ohne seinen Dodt Zu suchen“ (Pforzheim 1993, S. 239). Erst in der Stadtgeschichte von Siegmund Friedrich Gehres aus dem Jahre 1792 wird diese knappe, nur
abschriftlich erhaltene Gründungsnotiz zu einer dramatischen Beschreibung der schrecklichen Zustände
in Pforzheim ausgestaltet: „Hunderte starben hin, keiner wagte es mehr zum andern zu gehen; alle
Bande der menschlichen Gesellschaft waren zerrissen …“ So konnte es sich jeder vorstellen, der
seinen Boccaccio gelesen hatte, der noch viel ausführlicher und mit höchster literarischer Kunst die Auswirkungen der Pest von 1348 in Florenz beschrieben, besser sollte man wohl sagen, dargestellt
hat. Ihm war es vor allem auf den Zusammenbruch der normalen sozialen Verhaltensweisen ange-
kommen, in der Familie, unter Freunden, in der städtischen Gemeinschaft, ja auf den Verfall der Sitten,
bis hin zur Geschäftemacherei – und das hatte er gekonnt in Szene gesetzt. Freilich bezeugt Boccacios Mitbürger Matteo Villani auch: „Viele setzten sich der Todesgefahr aus, indem sie ihre Freunde und Verwandten pflegten, die erkrankt waren, und lebten so mit der Pest. Sie setzen ihren Pflegedienst
auch dann fort, als sie selbst infiziert waren. Jeder sah sich dabei vor, und man begann, einander ohne Vorurteil zu helfen und zu dienen. Dadurch wurden viele wieder gesund…“ (Bergdolt, S. 61).

Ähnlich war es auch in Pforzheim 1501, wenn wir dem Stadtchronisten Gehres folgen: „Endlich, wie
die größte Gefahr immer die größten Gesinnungen erzeugt, bildete sich eine besondere Gesellschaft,
die man den Orden der Starkmüthigen nennen sollte, die sich aber die Todengesellschaft nannte, eine Gesellschaft der biedersten und besten Menschen, die sich untereinander verbanden, ihren Mitbürgern,
die krank wären oder würden, unentgeldliche Hülfe zu leisten, keinen in Noth und Tod zu verlassen,
und denen, die stürben die Ruhe im Grabe zu verschaffen – denn bis dahin hatte man die Leichname
in den Kammern, darin sie gestorben waren, hinfaulen lassen“ (Pforzheim 1993, S. 244).

Damit hatten die Singer eine vorbildliche identitätsstiftende Gründungsgeschichte, die im 19. Jahr-
hundert in Vers und Prosa ausgebaut wurde – und auch den Namen einleuchtend erklärte: „ein Verein
der biedersten Menschen, welche sich untereinander verbanden, ihren erkrankten Mitbürgern unentgeldliche Hilfe zu leisten, keinen im Tod zu verlassen und nicht nur für ihr Begräbniß Sorge zu
tragen, sondern sie auch unter Absingung frommer Lieder zu ihrer letzten Ruhestätte zu begleiten
(daher der Name ‚Singergesellschaft‘)“ (Pflüger 1860, S. 199f).

Was von all dem findet sich in der frühesten Gründungsnotiz und in den ältesten überlieferten
Statuten der Gesellschaft? Von Krankenpflege ist keine Rede, auch nicht in den von Philipp Burkhardt
in seiner Festschrift 1901 als Ersatz herangezogenen Statuten der Aegidien-Bruderschaft in
Schwäbisch-Gmünd, die er als eine Imitation der Pforzheimer Singergesellschaft ansah. 1666 scheint
es in Pforzheim keine ‚beherzten Leute‘ zur Pflege der Kranken gegeben zu haben, wie die erste überlieferte Pestordnung der Stadt nahelegt (Pforzheim1993, S. 167f). Nach den Statuten von
1701 sind für das Tragen der Leichen gewählte Träger zuständig, die mit mehr als dem Jahresbeitrag
zur Gesellschaft entlohnt werden. Wir erfahren von drei Bahrtüchern in verschiedener Qualität, die
auch Nichtmitgliedern gegen ein entsprechend gestaffeltes Entgelt ausgeliehen werden. Wert gelegt
wird, und das erinnert an die alten Bruderschaften, auf die vollzählige Teilnahme aller Mitglieder am Begräbnis – von Gottesdiensten ist keine Rede mehr, nur noch ein Lied aus dem Markgräflichen Gesangbuch soll von allen Mitgliedern bei der Jahresversammlung ‚abgesungen‘ und eine „Erinnerung
cum voto “ vom jeweiligen Superintendenten gehalten werden, bevor man sich „in Liebe und Eintracht“ einer kleinen Mahlzeit widme (Pforzheim 1993, S. 240-42).

Ist die ganze Gründungsgeschichte also der literarisch inspirierten Feder eines Stadtchronisten
entsprungen, der den Umbrüchen der Reformation Rechnung trug, zugleich aber in revolutionären
Zeiten in den alten Singern die ‚altdeutsche Denkart‘ und den tüchtigen Bürgersinn der Pforzheimer
Bürger feierte um den Widerstand gegen den „immer stärker anbrausenden Strom kleinsinniger Neuerungssucht“ zu stärken (so der Stadtchronist Siegmund Friedrich Gehres 1792, nach Pforzheim
1993, S. 245)? Auch anderenorts wird gelegentlich Jahrhunderte nach der Gründung eine
Bruderschaft mit der Pest in Verbindung gebracht, so etwa 1739 in Freiburg, wo die erhaltene Gründungsurkunde von 1480 nichts davon weiß (Gerchow, S. 14) oder, in besonders sagenhafter
Form in Rheinfelden, wo ein Vöglein den letzten Überlebenden, 12 alten Männern, die Kunde von heilkräftigen Kräutern sang; nach ihrer Genesung „einten sie sich zu einer Todtenbrudersschaft,
pflegten die verlassenen Kranken und bestatteten die Todten“ (Pforzheim 1993, S. 186).

Freilich kann man aber auch fragen: Ist in den jüngeren Erzählungen nicht vielleicht doch, wenn
auch in zeittypischer, phantasievoller Ausgestaltung, ein harter Traditionskern bewahrt worden?
Haben wir in Pforzheim den seltenen Fall, daß die Gründung einer Pestbruderschaft, die sich der
aktiven Hilfe – und nicht nur dem Gebet – verschrieben hatte, mit einer akuten Pestepidemie verknüpft werden kann, um deren Nachweis sich Burkhardt so eifrig bemühte? Hatte diese Bruderschaft ihre Existenz über die Umbrüche der Reformation retten können, wenn auch in Anpassung an die
gewandelten Auffassungen – oder griff die seit dem späten 17. Jahrhundert aktenmäßig bezeugte Singergesellschaft die Tradition einer älteren Bruderschaft auf, unter einem neuen Namen und mit
einer klugen Anpassung des Stiftungszwecks an die gewandelten Verhältnisse? – Wer vermag eine
sichere Antwort zu geben, wenn jegliche Quellen fehlen (vgl. Pforzheim 1993, S. 217f., 222f).

Als einem Fernerstehenden, dem die Löbliche Singergesellschaft gleichwohl beim Studium der Überlieferung und des heutigen Selbstverständnisses ans Herz gewachsen ist, sei mir erlaubt, den
intimen Kennern der hiesigen Geschichte drei Gedanken zur Anregung zu geben, die mir bei der
intensiven Beschäftigung mit dieser und anderen Bruderschaften gekommen sind:

1. Der seit 1701 bezeugte Tag der jährlichen Versammlung der Singer, Dreikönig, ist ungewöhnlich
für eine mittelalterliche Bruderschaft, die meist den Tag ihres Titelheiligen feierte; die Heiligen Drei
Könige sind aber so gut wie nie als Bruderschaftspatrone belegt und gar nicht als Pestheilige. – In Pforzheim freilich versammelte sich am Montag nach Dreikönig die Flößer- und Schifferbruderschaft,
die just im Jahre 1501 gegründet wurde (Pforzheim 1993, S. 265). – Was ist aus ihr geworden?

2. Der Name der Singergesellschaft erinnert an das immer wieder artikulierte Anliegen vieler alten Bruderschaften, ihre Gottesdienste feierlich auszugestalten, so z.B. die just 1501 in Mergentheim gegründete Bruderschaft St. Annas und des Heiligen Blutes (Remling, S. 228, 234). Oft wird der
Kreis der Sänger ausdrücklich bestimmt. Die Bruderschaft der Bäcker und Müller in Iphofen
ermäßigt 1501 das Beitrittsgeld für einen Mann, der verspricht, „die weyl er lebt, zu singen vigilg
selmeß, so man begengniß helt“ (Remling, S. 333).

3. Die neuere Pforzheimer Geschichtsschreibung lehnt die Einordnung der Singergesellschaft in den Kontext der Meistersinger ab (Pforzheim 1993, S. 218, S. 224ff). Die Argumente sollten noch
einmal überdacht werden, wenn wir in Freiburg 1511 eine „Singerbruderschafft“ bei den Prediger-
brüdern finden, die eines ihrer beiden öffentlichen Hauptsingen kurz nach Weihnachten veranstaltete. Ansonsten war es eine ganz normale Bruderschaft, deren uns wohlvertraute Leistungen allen
Mitgliedern zugutekamen, „es sygend singer oder nit“ (c.1). Die Freiburger Singer nahmen nach der Reformation die in katholischen Gebieten normale Entwicklung: Seit 1600 beteiligten sie sich mit
szenischen Aufführungen an der Fronleichnamsprozession und nannten sich Bruderschaft von der
Hl. Dreifaltigkeit (Gerchow, S. 31-38). – Namenswechsel sind nicht selten.

Auch wenn wir vielleicht nie erfahren, wie es mit den Singern im Anfang ‚wirklich gewesen‘ –
darauf kommt es letztlich nicht an, denn jede Geschichte ist erinnerte Geschichte. Der in ganz
anderem Kontext geprägte Satz: „Der Stolz jeder Zeit auf das im Glauben an die eigene Tradition Errungene ist zu respektieren“ (Werner, S. 49 Anm.134). Entscheidend ist, welche Konsequenzen
man aus der sinnstiftenden Erinnerung zieht. Sie wird 2001 eine andere sein als 1792 oder 1901.
Und da ist mir, wie einleitend bereits gesagt, um die Löblichen Singer von heute nicht bang.

Ich wünsche den Löblichen Singern von 1501 Pforzheim viele engagierte Mitglieder, die sich in
kritischer Aneignung des überlieferten Geistes der Gründer und ihrer langen Geschichte mit den
neuen „Aufgaben, Zielen und Visionen der Löblichen identifizieren können“ und darf schließen mit
einem Vers, den ich vor kurzem bei einem Jubiläum einer viel jüngeren Bruderschaft aus vollem
Herzen mitgesungen habe: „Gottes Weg führt in die Weite! Gott sei mit euch allezeit! Brüder, singt
das Lied der Freude! Ihr habt Grund zur Dankbarkeit!“ Die Löbliche Singergesellschaft möge
wachsen, blühen und reiche Frucht bringen noch viele glückliche Jahre.

Hinweise auf primär benutzte und hier zitierte Literatur:

An erster Stelle sind zu nennen die Beiträge im Begleitband zur Ausstellung von 1993: Pforzheim zur Zeit der Pest.
Die Löbliche Singergesellschaft von 1501 mit Beiträgen von Claudia Baumbusch, Heide Hammel, Olaf Schulze,
Christoph Timm, hier abgekürzt zit. als Pforzheim 1993

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