Festrede

Ministerpräsident Erwin Teufel

anlässlich des Festakts zum 500-jährigen Bestehen der Löblichen Singergesellschaft von 1501 Pforzheim am 20. Juli 2001 in der Stadtkirche Pforzheim

Es gilt das gesprochene Wort.

Anreden,

„Löbliche Singergesellschaft in Pforzheim kann in diesem Jahr auf ihr 500jähriges Bestehen zurückblicken. 500 Jahre, ein halbes Jahrtausend – das ist eine Zeitspanne, die schon durch ihre schiere Größe Respekt verbreitet. Und dieser Respekt wird noch größer, wenn man bedenkt, daß hinter dieser Zahl nicht ein Gebäude oder eine Institution steh ‚ t, sondern eine Gruppe von Menschen, die sich vor allem durch eines auszeichnen, nämlich durch Engagement und Gemeinsinn.

Entstanden in einer Zeit, als es dieses Wort noch lange nicht gab, sind die „Löblichen Singer“ eine der ältesten Bürgerinitiativen Deutschlands. Ich bin sehr gerne zum heutigen Jubiläums-Festakt nach Pforzheim gekommen. Und es ist mir eine große Freude, den „Löblichen Singern“, ihren Angehörigen und Freunden und auch der Stadt Pforzheim zu diesem außergewöhnlichen Geburtstag zu gratulieren.

Meine Damen und Herren, als im Jahr 1501 die Pest in unserem Land wütete und auch in Pforzheim zahllose Menschen dahinraffte, taten sich hier einige beherzte Männer zusammen, um den Pesttoten, die auf den Straßen und in den Häusern lagen, ein würdiges Begräbnis zu bereiten.

Ohne Rücksicht auf die Ansteckungsgefahr, der sie sich dabei aussetzten, brachten diese frommen Männer die Leichen der Verstorbenen zum Friedhof. Den Gebeten und frommen Liedern, die sie dabei vortrugen, verdanken sie die Bezeichnung „Singer“, die sich bis heute erhalten hat und die manchmal zu der irrigen Annahme führt, daß es sich bei der „Singergesellschaft“ um einen historischen Gesangverein handele.

Von ihren Ursprüngen her war die Singergesellschaft das, was wir heute eine bürgerschaftliche Selbsthilfebewegung nennen würden. Über Standes- und Zunftgrenzen hinweg schlossen ihre Mitglieder sich zusammen, um Not und Gefahr von der Gemeinschaft abzuwenden. Und sie taten dies aus einem gemeinsamen, religiös geprägten Wertebewußtsein heraus, das auf drei Säulen ruhte:

• der Nächstenliebe – gegenüber den Lebenden wie auch den Toten

• einem starken Gemeinschaftssinn

• und einer ausgeprägten Selbstlosigkeit.

Im Laufe ihrer 500jährigen Geschichte haben die „Löblichen Singer“ eine Vielzahl von historischen Umbrüchen erlebt. Ihre Aufgabengebiete und Tätigkeitsfelder haben sich wiederholt gewandelt, aber ihre Zielsetzung und die Grundmotivation ihres Handelns sind immer gleich geblieben.

Entstanden ist die „Löbliche Singergesellschaft“ als eine religiöse Bruderschaft (über die wir gleich im Festvortrag von Herrn Professor Felten aus Mainz wichtige und interessante Informationen erhalten werden). In der Reformation wandelte sie sich zu einer Begräbnisgesellschaft. Sie überstand die Verheerungen des Pfälzischen Erbfolgekrieges, den Niedergang des Alten Reiches und die Napoleonischen Wirren. Im 19. Jahrhundert, im Zeitalter der Industrialisierung und der Sozialen Frage, entwickelte sich die Singergesellschaft zu einem lokalen Wohltätigkeitsverein.

Der Bürgergeist, der Gemeinsinn und die tätige Nächstenliebe, für die die „Löblichen Singer“ standen und stehen, haben auch die Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt:

Die „Singergesellschaft“ hat die Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg, den Terror der Nazi-Herrschaft, den Krieg und auch den Untergang des alten Pforzheim im alliierten Bombenhagel vorn Februar 1945 überstanden.

Heute engagieren sich die 550 Mitglieder der Singergesellschaft vor allem in der Wohlfahrts- und Heimatpflege. Sie unterstützen die Jugend- und Altenarbeit sowie die Kranken- und Behindertenpflege in Pforzheim. Durch die Förderung von heimatgeschichtlichen Buch- und Ausstellungsprojekten, durch Vorträge und Veranstaltungsreihen tragen sie zum lokalen Geschichtsbewußtsein bei. Durch „stille Hilfe“ lindern sie die Not von bedürftigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Was hält die moderne Gesellschaft zusammen? – Diese Frage wird angesichts der Herausforderungen der Moderne, angesichts der Unübersichtlichkeit unserer pluralen Gesellschaft und angesichts eines wachsenden Individualismus immer häufiger gestellt.

Ich glaube, daß unsere Gesellschaft vor allem dadurch zusammengehalten wird, daß Bürgerinnen und Bürger bereit sind, Verantwortung zu übernehmen:

• Verantwortung für die Gemeinschaft,

• Verantwortung für ihre Mitmenschen,

• Verantwortung für die Weit, in der sie leben,

• und schließlich auch Verantwortung für sich selbst.

Die soziale Temperatur einer Gesellschaft steht und fällt mit der Bereitschaft der Menschen, sich zu engagieren. Bürgerschaftliches Engagement, Ehrenamt, Vereine, Initiativen, Projekte und Selbsthilfegruppen sind unverzichtbare Stützen für den Gemeinsinn und das soziale Miteinander in unserem Land.

Jede Gesellschaft ist darauf angewiesen, daß es Menschen gibt, die nicht fragen, was es kostet oder bringt und die auch nicht auf den Staat warten, wenn es Probleme gibt, sondern die selber zupacken und sich mit ihren Fähigkeiten und Talenten einbringen.

Die „Löblichen Singer“ sind solche Menschen. Seit 500 Jahren engagieren sie sich hier in Pforzheim für die Belange des Gemeinwesens. Sie verkörpern damit das, was hinter dem Begriff des „Ehrenamtes“ steht. Dafür möchte ich Ihnen heute im Namen der Landesregierung meinen herzlichen Dank aussprechen.

Auf Anregung der Vereinten Nationen wird das Jahr 2001 auf der ganzen Welt als Internationales Jahr der Freiwilligen begangen. In diesem Jahr soll die öffentliche Aufmerksamkeit auf die vielen Dienste in unserer Gesellschaft gelenkt werden, die von Ehrenamtlichen und freiwilligen Helfern unentgeltlich erbracht werden – auf Dienste, ohne die unser Zusammenleben sehr viel komplizierter, sehr viel teurer und vor allem sehr viel weniger menschlich wäre. Es ist ein gutes Zeichen, daß das 500jährige Jubiläum der „Löblichen Singergesellschaft“ in dieses Internationale Freiwilligenjahr fällt.

Wir sollten dieses Freiwilligenjahr auch zum Anlaß nehmen, um über unser Selbstverständnis als Bürgerinnen und Bürger im Staat nachzudenken. Vor 500 Jahren, als hier in Pforzheim die „Löbliche Singergesellschaft“ gegründet wurde, war es noch existentiell erfahrbar, daß ein Gemeinwesen auf den Dienst seiner Mitglieder angewiesen ist: Das galt für das Bestatten der Toten genauso wie für die Bewachung und Verteidigung der Stadt oder die Speisun.g der Armen. Die Gesellschaft des alten Reiches lebte von einem System wechselseitiger Verpflichtungen und Solldaritätsbeziehungen, das über Fürbitte und Gebet sogar die verstorbenen Generationen mit einschloß. Zur Rolle des Bürgers gehörte ganz selbstverständlich nicht nur die Ausübung seines Erwerbsberufes, sondern auch die Wahrnehmung von Pflichten und Verpflichtungen, die jenseits von Staat und Markt angesiedelt waren.

Diese Art von Solidarität ist uns in den letzten Jahrzehnten jedoch zunehmend fremd geworden. Viele von uns haben sich daran gewöhnt, nach dem Staat zu rufen, statt sich zunächst einmal auf die eigenen Kräfte der Gesellschaft zu besinnen.

Inzwischen zeigt sich aber, daß dieser Ruf nach dem Staat – so berechtigt er in manchen Bereichen auch sein mag – sehr schnell in eine Spirale der gegenseitigen Überforderung münden kann:

Auf der einen Seite sind die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat gewachsen. Auf der anderen Seite hat die Politik viel zu lange die Illusion genährt, sie könne alle diese Ansprüche auch befriedigen.

Heute müssen wir sehen, daß diese Illusion nicht einlösbar ist. – Und zwar nicht nur aus Kostengründen, sondern auch deshalb, weil sie im Widerspruch zu unserem freiheitlichen Menschenbild steht.

Wir alle wissen: Der Übergang von Fürsorge zur Bevormundung ist fließend, und Bequemlichkeit kann schnell in Verdrossenheit umschlagen. Wir müssen deshalb in unserer Gesellschaft auf allen Ebenen neu lernen, das Subsidiaritätsprinzip und die Eigenverantwortung der gesellschaftlichen Gruppen wieder ernstzunehmen. Subsidiarität bedeutet: Vorrang für kleine Einheiten: Was der einzelne Mensch oder eine kleine Gruppe aus eigenen Kräften bewältigen kann, das darf die nächsthöhere Ebene nicht an sich ziehen.

Gelegentlich wird den Befürworter des Subsidiaritätsgedankens vorgeworfen, daß sie einen schwachen Staat wollten. Doch das ist eine verkürzte Sichtweise: Es geht hier nicht um einen schwachen Staat, sondern um eine starke Gesellschaft! Nur eine starke Gesellschaft kann auch solidarisch mit den Schwachen handeln.

In diesem Zusammenhang gilt es noch ein zweites Mißverständnis aufzuklären: Wer für Ehrenamt und bürgerschaftliches Engagement eintritt, bekommt gelegentlich zu hören, das sei ja alles schön und gut, aber in Wirklichkeit gehe es dem Staat heute doch nur darum, Lückenbüßer für die eigenen knappen Kassen zu suchen. Auch dies ist eine Verkürzung: Ehrenamt und Engagement sind nicht billig, sondern wertvoll!

Aber leider ist uns das Bewußtsein für diesen Wert in den Zeiten voller Kassen teilweise abhanden gekommen. Im übrigen geht es hier nicht nur um Kosten, sondern auch um unser Selbstverständnis als demokratische Gesellschaft. Lassen Sie es mich mit den Worten von Max Frisch sagen: „Demokratie heißt, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen.“ – Nichts anderes tun ehrenamtlich engagierte Bürgerinnen und Bürger. Und deshalb ist Engagement unverzichtbar für eine demokratische Gesellschaft.

Glücklicherweise verfügen wir in Baden-Württemberg über eine außerordentlich reiche Kultur des Ehrenamtes und des bürgerschaftlichen Engagements. Wie hier in Pforzheim reichen die Wurzeln dieser Kultur weit in die Geschichte unseres Landes zurück:

– Sie gründen im bürgerschaftlichen Selbstbewußtsein der Freien Reichsstädte.

– Sie gründen in der Prägung durch Christentum, Aufklärung und Humanismus.

– Sie gründen in den freiheitlichen und sozialen Idealen der 1848er Bewegung, die bei uns im Südwesten besonders ausgeprägt war.

In Baden-Württemberg können wir stolz auf unser traditionsreiches und blühendes Vereinsleben sein. Zugleich gibt es in unserem Land eine Vielzahl von neuen bürgerschaftlichen Initiativen und Projekten, die bundesweiten ModelIcharakter haben.

Nach einer Infratest-Studie sind 40 Prozent aller Bürgerinnen und Bürger Baden-Württembergs ehrenamtlich engagiert. Verglichen mit dem Bundesdurchschnitt, der bei 34 Prozent liegt, ist dies ein außerordentlich hoher Wert. In keinem anderen Land gibt es soviel Engagement wie in Baden-Württemberg. Wir sind auf einem guten Weg zu einer aktiven Bürgergesellschaft. Allen, die durch ihr Engagement dazu beitragen, möchte ich sehr herzlich danken!

Die Landesregierung trägt das ihre dazu bei, um die Entwicklung einer solchen aktiven Bürgergesellschaft zu unterstützen. Im laufenden Jahr investieren wir rund 190 Mio. DM in das Ehrenamt und das Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Aus diesen Mitteln wird beispielsweise die Förderung von Sport und Laienkultur, der Aufbau von Netzwerken und die Durchführung von Weiterbildungsmaßnahmen finanziert.

In den Schulen haben wir ein umfangreiches Mentorenprogramm initiiert, das bereits junge Menschen für ein Engagement begeistern soll und von diesen auch sehr gut aufgenommen wird.

Finanzielle Förderung ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Sicherung großzügiger rechtlicher Rahmenbedingungen für das Ehrenamt. Seit dem letzten Sommer sind die Pflege von Kultur und Sport in unserer Landesverfassung als Staatsziele festgeschrieben. Die Bedeutung, die die Landesregierung dem bürgerschaftlichen Sektor beimißt, kommt auch darin zum Ausdruck, daß Herr Staatssekretär Helmut Rau (Kultusministerium) zum Landesbeauftragten für das Ehrenamt ernannt wurde.

Auch auf Bundesebene hat sich die Landesregierung für eine Stärkung des Ehrenamtes eingesetzt:

Im nationalen Beirat für das Freiwilligenjahr wirken wir an führender Stelle mit.

Wir haben im Bundesrat Initiativen für eine Reform der Vereinsbesteuerung und für eine Rücknahme des 630-Mark-Gesetzes eingebracht, das in seiner jetzigen Form eine schwere Belastung für das Ehrenamt darstellt. Leider sind wir bei diesen Initiativen darauf angewiesen, daß auch andere mitziehen, und das ist nicht immer der Fall.

Außerdem hat die Landesregierung eine Bundesratsinitiative für eine Neugestaltung des Freiwilligen Sozialen und des Freiwilligen Ökologischen Jahres gestartet. Wir wollen, daß das Zugangsalter für diese beiden wichtigen Freiwilligendienste auf 15 bzw. 16 Jahre gesenkt wird, um diese Programme auch für Haupt- und Realschüler attraktiv zu machen.

Die Politik hat die Aufgabe, Gemeinsinn zu ermöglichen und zu fördern. Aber sie kann diesen Gemeinsinn weder verordnen noch erkaufen. Sie bleibt darauf angewiesen, daß es Menschen gibt, die bereit sind, mehr zu tun als ihre Pflicht; Menschen, die sich von sich aus engagieren:

• für ihre Mitmenschen,

• für die Belange der Gemeinschaft

• und für sich selbst.

In Pforzheim hat dieses Engagement eine lange und gute Tradition. In ihrer 500jährigen Geschichte haben die „Löblichen Singer“ gezeigt, daß Gemeinsinn durch nichts zu ersetzen ist und daß eine Gruppe, die sich dem Gemeinsinn verpflichtet weiß, immer auf der Höhe der Zeit bleibt – auch nach einem halben Jahrtausend.

Ich wünsche den „Löblichen Singern“, daß sie auch in Zukunft eine Säule der bürgerschaftlichen Kultur in dieser Stadt bleiben werden. Und ich wünsche mir, daß ihr Beispiel Schule macht: hier in Pforzheim und in unserem ganzen Land.

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